Leseprobe (Gewinnertext)
Sascha Reh, Das unheimliche Tal
Carla,
seit ich ein Flaschengeist bin, fällt es uns schwer, miteinander zu kommunizieren. Ich hatte das erwartet. Du magst den Klang meines Sprachassistenten nicht. Es ist meine Stimme, wir haben die Sprachaufnahmen kurz vor meinem Upload gemeinsam gemacht. Und doch schmerzt es Dich, sie zu hören. Du hörst all das, was anders ist, die veränderten Phrasierungen, minimale Nuancen. Ich kann nichts dagegen tun. Seit wir chatten, scheinst Du mir wieder mehr Details aus Deinem Leben anzuvertrauen. Aber das Chatten hinterlässt den Eindruck, ich sei auf einen weit entfernten Kontinent gezogen.
Du hast mir beim letzten Mal eine schwierige Frage gestellt, Carla. Ich habe sie bisher nicht beantwortet. Vielleicht denkst du, ich sei verstimmt oder verletzt. Das bin ich nicht. Dass ich nicht wusste, wie ich Dir antworten sollte, hatte andere Gründe.
Stell dir vor, du wirst operiert. Du liegst auf einem Operationstisch. Dein gesamter Körper ist betäubt, aber du bist wach. Das OP-Team und du, ihr seid durch ein Tuch voneinander getrennt, das man vor deinem Gesicht aufgehängt hat. Du weißt, dass Ärztinnen und Assistenten an dir arbeiten, doch weder siehst du sie, noch spürst du, was sie tun. Es gibt keine sensuellen Reize.
Was es einzig noch gibt, das sind Deine Empfindungen. Du bist beunruhigt. Du fühlst Beklommenheit. Verstehst du? (...)
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